In Between - von Stefanie Heckmann

In Between
von Stefanie Heckmann

Werbung hat sich als eine Form von
Massenunterhaltung erwiesen,
die sich selbst auffrisst.

                     Marshall McLuhan

I.
Kaum jemand käme heute noch auf den Gedanken, Fotografie sei ein Medium, das Authentizität verbürge. Mit der Popularisierung der digitalen Techniken in den letzten Jahren hat sich der Glaube, dass Fotografie eine Wirklichkeit jenseits des Objektivs bezeugt, verflüchtigt. Heute ist nahezu jeder, der einen Computer besitzt, auch in der Lage, Bilder aller Art in diesen einzuspeisen und weiterzubearbeiten. Aber der technische Fortschritt in der Bildproduktion hat uns zugleich immer tiefer in konstruierte Umwelten hineingezogen; jede neue versteht es noch besser, den Eindruck des Realen zu simulieren. Obwohl wir wissen, dass Fotos, denen wir im Alltag begegnen, in der Regel Konstruktionen sind, sind wir doch verführbar wie nie, ihrem schönen Schein auf irrationale Weise Glauben zu schenken.

Auch die Kunst experimentiert seit dem Aufkommen neuer Medien mit digitalen Bildschöpfungen. Sie nutzt das gesamte Spektrum des Computers, fotografie-ähnliche Bilder zu erzeugen oder Fotografien zu manipulieren. Und doch haben wir nicht erst, seit es den Computer gibt, die Möglichkeit, das Ergebnis des fotografischen Aktes zu beeinflussen. Bereits zuvor waren analog aufgenommene Fotografien, gerade weil sie den Status einer "Ikone des Realen" hatten, ein ideales Medium, um vor der Kamera oder durch Montage und sonstige technische Tricks in die "Realität" einzugreifen. Die Ergebnisse bewegen sich damals wie heute zwischen manipulierter Realität und zur Schau gestellter Phantasie, zwischen Konstruktion und Dekonstruktion.

Auch die fotografiebasierten Arbeiten von Peter Freitag sind Konstruktionen. Der Künstler geht in seinen Werken von Bildern der Werbung, von privaten oder pseudo-privaten Fotos aus dem Internet aus, die er komplexen Bearbeitungen unterzieht. Insgesamt lassen sich vier große Werkgruppen benennen, die in den letzten Jahren entstanden sind: Die jüngsten Arbeiten sind die SCENES FOR LIFE, deren Vorlagen aus Warenhauskatalogen stammen. Davor entstand die Serie der EBAYS. Sie basiert auf Fotos, mit denen Verkäufer bei ebay ihre Produkte für Internet-Versteigerungen anbieten. Gleichzeitig arbeitete der Künstler an der Serie PRIVATE STAGES, die von pornografischem Bildmaterial aus dem Internet ausgeht, während die älteste Werkgruppe der EXAMPLES FOR COMMUNICATION ihre Vorlagen aus Katalogen von Reisebüros bezieht.

 

II.
Bilder aus der Werbung gaukeln uns heitere Scheinwelten vor, über die das Auge, ohne hängen zu bleiben, hinweggleitet. Nehmen wir zum Beispiel Kataloge von Reiseveranstaltern. Sie bieten neben Landschaftsaufnahmen Einblicke in Hotelzimmer, in denen Menschen in Gemeinschaft einfachen Tätigkeiten nachgehen, die wir mit Freizeit assoziieren. Die Protagonisten liegen auf dem Bett, lesen, trinken, essen oder spielen mit den Kindern. Die Szenen vermitteln den Eindruck von Glück und Zufriedenheit und bedienen unsere Sehnsucht nach Harmonie.

Doch der Eindruck des entspannten Beisammenseins täuscht. Tatsächlich handelt es sich bei den Aufnahmen um inszenierte Situationen, die das Ergebnis einer Vielzahl von Entscheidungen und Eingriffen vor und hinter der Kamera und bei der Nachbearbeitung im Computer sind. Werbung liefert uns die symbolische Essenz der kulturellen Erfahrungen. Sie erfasst, so Marshall McLuhan in seinem Buch DIE MAGISCHEN KANÄLE "ein weites Erfahrungsfeld auf kleinstem Raum" und transformiert es in Phantasiebilder. Diese erscheinen, eben weil sie sich auf die Essenz der Dinge konzentrieren, lebendiger und realer als die originalen Phänomene und Situationen.

Werbefotografie verleibt sich gefräßig alle bildförmigen Erzeugnisse einer Gesellschaft vom Tafelbild über Pressefotos bis zu all den anderen Werbebildern ein. Haltungen, Gesten, Mimik verfestigen sich zu Bildformeln, die bewusst oder unbewusst immer wieder aufgegriffen und eingesetzt werden. Über gesellschaftliche Umgangsformen, soziale Verhaltensweisen und gängige Schönheitsvorstellungen erzeugt die Werbung ein Begehren, das umso intensiver empfunden wird, je weniger wir darüber nachdenken, wie die Bilder zustande gekommen sind.

Um so erstaunlicher ist es, wenn wir zielorientierten Bildern dieser Art im Kunstkontext wieder begegnen. Was macht solche Bilder für den Kunstkontext interessant?

Die EXAMPLES FOR COMMUNICATION wirken auf den ersten Blick homogen und geschlossen. Die Eingriffe in die idyllischen Urlaubssituationen, die der Künstler vorgenommen hat, sind zunächst kaum sichtbar. Erst auf den zweiten Blick erkennen wir, dass mithilfe des Computers alle beweglichen Gegenstände: Gläser, Bücher, Spielzeug, Geschirr aus den Szenen getilgt wurden. Nur Menschen, Räume und ein Basismobiliar bleiben übrig. Die bearbeiteten Bilder werden um ein Vielfaches vergrößert, farblich in ihren Kontrasten verstärkt und als Serie präsentiert. Die Rasterpunkte sind ein deutlicher Hinweis auf die gedruckte Vorlage; sie bleiben sichtbar oder werden am Schluss der digitalen Bearbeitung über die Bilder gelegt.

Ohne die Dinge gewinnen die großformatig präsentierten Szenen ein Eigenleben. In den seltsam leblosen Welten haftet den isoliert agierenden Figuren etwas traumhaft Unwirkliches an. Unwillkürlich beginnen wir, die ohne die Dinge sinnentleerten Gesten und Handlungen der Figuren aufeinander zu beziehen und versuchen, die Szenen zu entschlüsseln. Abbildungen aus Reise- oder Warenhauskatalogen bieten sich als Vorlagen für Peter Freitags Bearbeitungen an, weil die gestellten Fotos uns mit bewunderungswürdiger Ökonomie nur so viel anbieten, wie notwendig ist, um unsere Erwartung einer idyllischen Szenerie einzulösen. Es sind einfach konstruierte, emotional befriedigende Grundsituationen, die sich konservativer Rollenklischees bedienen und mit wenigen Schlüsselrequisiten auskommen. Nimmt man aus den sparsam inszenierten, emotional eindeutigen Bildern nur wenige Elemente heraus, bricht der Anschein vertrauter Realität wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Auch in den SCENES FOR LIFE schneidet der Künstler – hier allerdings ganz mechanisch mit der Schere – vor der Kamera posierende Figuren aus Warenhauskatalogen aus und montiert sie in neue Zusammenhänge. Die unterschiedlich großen Figuren werden mit Tesastreifen auf Plexiglasscheiben geklebt; die Scheiben dann, entsprechend den Gesetzen der Perspektive, vor der Abbildung eines Innenraums gestaffelt und künstlich beleuchtet. Das Objektiv der Kamera zieht die Szenerien zu neuen Situationen zusammen. Die räumliche Staffelung und einheitliche Beleuchtung verleiht den Fotos optische Plausibilität und eine eigenartig intensive Tiefenwirkung. In ihren theatralischen Grundsituationen erinnern die inszenierten Fotos an Film Stills. Oft als Sequenz präsentiert, wirken sie, wie aus einem filmischen Handlungsablauf herausgelöst, der aber rätselhaft und voller Brüche bleibt. Noch deutlicher als bei den EXAMPLES FOR COMMUNICATION legen die SCENES FOR LIFE ihr Gemachtsein offen. Peter Freitag vermeidet im Unterschied zu den Vorlagen aus der Werbung die suggestive Evidenz des Augenscheins. Über Tesastreifen, Lichtreflexionen und Kratzer auf den Plexiglasscheiben bleibt der Herstellungsprozess ablesbar.

Die EXAMPLES FOR COMMUNICATION und SCENES FOR LIFE führen auf einfache aber wirkungsvolle Weise vor, wie effektiv und unauffällig Bilder der Werbung an soziale Codes andocken und sie reproduzieren, um bestimmte Emotionen in uns zu wecken. Widerstandslos und fließend gehen sie in der bestehenden Bildkultur auf, ohne dass wir auch nur einmal innehielten. Peter Freitag kratzt an der Oberfläche der Bilder. So einfach die Manipulationen im einzelnen sind, führen sie doch zu einem vollständigen Wandel der Bildaussage. Seine Manipulationen haben den Effekt von Widerhaken, an denen die Blicke des Betrachters hängen bleiben.

Ohne die ursprüngliche Ordnung der Dinge lassen sich die Bilder nicht mehr einfach konsumieren. Die Dramen, denen man sich auf der Spur glaubt, finden im Bild keine Lösung. Denn die psychologischen Momente von Entfremdung, Glück oder Aggression, die wir scheinbar aus den Bildern herauslesen, sind eine kreative Leistung, die wir als Betrachter einbringen. Die neuen Bildsituationen verführen zu einem sich allmählich vorantastenden, forschenden Sehen. Der leichte Schleier, der über der Szene liegt, erweist sich als Rasterpunkte, die der gedruckten Vorlage entstammen; die traumhafte Atmosphäre als Effekt einer Manipulation. Doch auch wenn wir erkannt haben, wie die Bilder gemacht sind, büßen sie ihre Faszination nicht ein. Die Ambivalenz ist ihre Stärke; die Bildaussage bleibt offen.

 

III.
Was für die EXAMPLES FOR COMMUNICATION und die SCENES FOR LIFE gilt, lässt sich auch an den EBAYS und PRIVATE STAGES zeigen. Die Serie der PRIVATE STAGES basiert auf privaten oder privat wirkenden pornografischen Fotos aus dem Internet. Die Vorlagen, die Peter Freitag auswählt, zeigen in der Regel nur eine Figur, die sexuell aufreizende Posen einnimmt. Genau wie die Werbung ist die Pornografie auf ein Begehren hin kalkuliert: Sie will Lust erwecken.

Sexuelle Darstellungen im Internet, auch in diesem Punkt der Werbung vergleichbar, reproduzieren die immer gleichen Posen und Inhalte. Abweichungen sind eher die Ausnahme als die Regel. Die Bilder, die im Netz zirkulieren, dienen als Rohstoff. Sie werden von Usern heruntergeladen und als Vorlage für eigene Inszenierungen genutzt. Es überrascht daher kaum, dass Pornofotos und Werbefotos nach demselben Prinzip funktionieren. Es gilt das Paradox der kapitalistischen Logik: Konsum macht nicht satt, sondern erzeugt immer neues Begehren. Der Hunger nach pornografischen Bildern kann nie gestillt werden.

Ähnlich wie bei den EXAMPLES FOR COMMUNICATION konzentriert sich Peter Freitag bei der Bearbeitung der Nacktfotos auf ein Element. Hier verschwindet der eigentliche Bildgegenstand: die Figur. Sie wird durch Kreise überklebt, die mit einem Locheisen mechanisch aus dem Bildhintergrund ausgestanzt wurden. Die Kreise übersetzen die Figur in eine Art durchsichtiges Seifenblasenmuster. Statt der eindeutig erotischen Inszenierung eines Körpers sieht der Betrachter sich mit einer Leerstelle konfrontiert.

Die Welt permanenter Geilheit erweist sich mit dem Verschwinden der Figur als Fiktion; übrig bleiben die Schauplätze, deren Schäbigkeit und Alltäglichkeit im Scheinwerferlicht nur umso deutlicher hervortreten. Neben dem Exhibitionismus des Körpers gibt es auch einen des Schauplatzes, sodass wir, auch wenn die künstliche Atmosphäre des Begehrens in sich zusammenfällt, dennoch zum Voyeur werden. Ohne das Theater der Pornografie wird die ansonsten sorgfältig gehütete Privatsphäre zum eigentlichen Thema, die freiwillig oder unfreiwillig mit den Körpern entblößt wird. Es ist ein Gefühl, als wäre man in die Wohnung des Nachbarn eingedrungen. Vom Muster der Tapete, über Badezimmereinrichtungen, Bücherregale, Möbel und sogar Fotos von Kindern und Verwandten, die ganz private Lebenswelt wird öffentlich. Auf ähnliche Weise thematisieren auch die EBAYS das Problem der unfreiwilligen Preisgabe intimer Lebenssituationen, wenn Peter Freitag alle Fotos eines Anbieters in eine Art Wohnsituation zusammenmontiert. Bei den EBAYS wie bei den PRIVATE STAGES entsteht ein Gefühl von Intimität, obwohl die Menschen selbst anonym bleiben, ja selbst wenn es sich bei den Hintergründen der PRIVATE STAGES nur um Kulissen eines low budget Foto-Shootings handeln sollte.

 

IV.
Eines machen die fotografiebasierten Arbeiten von Peter Freitag ganz klar: Die alte Frage nach der Differenz zwischen Realität und Bild hat an Relevanz verloren. Bilder im Bereich der Kunst beziehen sich in der Regel auf andere Bilder. Sie markieren Schnittpunkte unterschiedlicher Bildsysteme, die es genauer in ihren Funktionen und Wirkungsweisen zu unterscheiden gilt. Im Gegensatz zu den sich selbst verzehrenden Bildern der Werbung ruhen die Arbeiten in sich. Sie erzeugen als Werke der Kunst einen eigenen Raum, in den der Betrachter eingeladen ist, ihr Geheimnis zu ergründen. Wie es der Malerei seit der Moderne entspricht, ist die Reflexion der eigenen Bedingungen ein Teil des Inhalts. Die Arbeiten legen Konzept und Entstehungsprozess offen, wobei das Rätsel ihrer Wirkung davon letztlich unberührt bleibt.